Darm im Gleichgewicht - Mit der Gabe des E. coli Stammes „Nissle 1917“ stehen neue Wege zur Verminderung des Frühdurchfalles bei Kälbern zur Verfügung.
Durchfälle sind eine der häufigsten Todesursachen bei neugeborenen Kälbern und somit eine der Hauptgründe großer finanzieller Verluste. Die Erkrankungsraten können in einzelnen Beständen über 80%liegen.Verlustraten von bis zu 25 % sind nicht unbekannt. Die Hauptursachen des Neugeborenendurchfalls der Kälber sind infektiöse Erkrankungen des Verdauungsapparates. Die Behandlung stützt sich normalerweise auf die Verwendung von Breitband-Antibiotika und andere Chemotherapeutika mit oder ohne begleitende Elektrolyt-Therapie. Vor Entdeckung des Penicillins wurden Störungen des Verdauungstraktes häufig durch die Gabe nicht-pathogener Bakterien behandelt. Heute gewinnt dieser probiotische Ansatz wieder verstärkt an Interesse. Dass durch die orale Gabe von Bakterien das Risiko von Darmerkrankungen bei Mensch und Tier gesenkt werden, ist mittlerweile vielfach wissenschaftlich belegt.
Natürliches Wirkprinzip
Alle Säugetiere werden steril geboren. Die Erstbesiedelung des Verdauungstraktes setzt mit der Geburt ein. Keime aus der Geburtsumgebung, vor allem von der Mutter, werden aufgenommen und siedeln sich an. Die Besiedelung erfolgt also mehr oderweniger zufällig in Abhängigkeit vom Milieu, in dem das Tier geboren wird. Entscheidend ist hierbei die Fähigkeit der Keime zur Ansiedelung und nicht ihre positive oder negative Wirkung auf das Neugeborene. Von besonderer Bedeutung sind die ersten sich ansiedelnden Keime. Diese sind die Wegbereiter der sich ausbildenden Magen-Darm-Flora. Durch Verabreichung definierter lebender Mikroorganismen direkt nach der Geburt wird die Entstehung der Mikroflora des Neugeborenen nicht dem Zufall überlassen, sondern gezielt aufgebaut. Der Wirkmechanismus beruht im wesentlichen auf der Hemmung unerwünschter und der Förderung erwünschter Mikroorganismen. Darüber hinaus gibt es Belege für eine direkte Beeinflussung des Darmgewebes durch Stoffwechselprodukte einzelner eingesetzter Mikroorganismen. Die entstehende Flora ist stabiler und widerstandsfähiger gegenüber Störungen. Als Folge können sich Infektionserreger nicht oder weniger effektiv vermehren. Durchfallerkrankungen werden verhindert oder in ihrem Verlauf vermildert. Der nicht-pathogene E.-coli Stamm Nissle wird in der Humanmedizin seit 1917 verwendet und erfolgreich als Medikament zur Behandlung verschiedener Erkrankungen eingesetzt. Darüber hinaus verhindert dieser Stamm bei neugeborenen Kindern die Ansiedelung pathogener und potenziell pathogener Bakterien. In der Veterinärmedizin ist E. coli Stamm Nissle 1917 unter dem Namen Ponsocol® zur Prophylaxe von Durchfällen bei neugeborenen Kälbern als Medikament zugelassen. Der E. coli Stamm Nissle 1917 besitzt die Fähigkeit zur Besiedelung des Magen-Darm-Traktes. Mit seinen Zelloberflächenstrukturen (Fimbrien) heftet er sich an die Darmwand. Hierdurch wird eine Barriere gebildet, die es anderen, insbesondere krankmachenden Organismen erschwert, sich im Verdauungstrakt festzusetzen. Durch Nährstoffkonkurrenz und die Produktion von speziellen Abwehrstoffen werden potentielle Infektionserreger aktiv daran gehindert, im Magen-Darm-Trakt zu verbleiben und sich dort zu vermehren (siehe Abbildung 1). Dieser als Antagonismus bezeichnete Effekt wurde für E. coli Stamm Nissle beispielsweise an Salmonellen, enteropathogenen und enterohämorrhagischen E. coli (EPEC und EHEC ) und Candida Hefen nachgewiesen.
Durchführung
In den beiden hier vorgestellten Studien sollte untersucht werden, ob durch die Gabe probiotischer Bakterien Durchfälle bei neugeborenen Kälbern verhindert werden können. Die Untersuchungen wurden in vier Betrieben mit 900 bis 1400 Kälbergeburten pro Jahr durchgeführt. In den teilnehmenden Betrieben wurden die Tiere wie folgt gefüttert und gehalten: Jedes Kalb erhielt nach der Geburt 2,5 bis 3 Liter Kolostrum der eigenen Mutterkuh. Am zweiten und dritten Lebenstag wurde die gleiche Menge Zweit- und Drittkolostrum verfüttert. Vom vierten bis letzten Studientag erhielten alle Tiere vorgewärmte Mischmilch oder Milchaustauscher. Alle Kälber wurden direkt nach der Geburt von den Mutterkühen getrennt. Bis zum dritten Lebenstag wurden die Tiere in Einzelboxen und ab dem vierten Tag in Gruppen mit maximal zehn Tieren gehalten. In beiden Studien wurden nur gesunde Kälber mit einer Geburtsmasse größer 33 kg aufgenommen. Alle Tiere erhielten entweder E. coli Stamm Nissle 1917 oder ein unwirksames Vergleichspräparat (Placebo). In der ersten Studie wurde diese Medikation vom ersten bis zum zwölften und in der zweiten Studie vom ersten bis zum zehnten Lebenstag oral verabreicht. E. coli Stamm Nissle 1917 bzw. das Placebo wurde am1.Lebenstag unmittelbar nach der Geburt, vor der ersten Kolostrumgabe und vom zweiten bis zehnten bzw. zwölften Tag morgens vor der ersten Fütterung den Tieren gegeben.
Ergebnisse
In beiden Studien wurden insgesamt 335 Tiere aufgenommen. Die Anzahl der Tiere beider Behandlungsgruppen, die einen Durchfall entwickelten wurden gezählt und miteinander verglichen. Tiere mit einem dünnbreiig oder wässerigen Kot an mindestens zwei aufeinander folgenden Tagen, wurden als Tiere mit Durchfall gewertet. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 wiedergegeben. In beiden Studien war die Anzahl der Durchfälle bei Gabe von E. coli Stamm Nissle deutlich niedriger. In Studie I erkrankten 58 (65,2 %) aller Tiere, die Placebo erhalten hatten an einem Durchfall. Bei Gabe von E. coli Stamm Nissle waren es nur 22 Tiere (26,5 %). In der Studie II wurde dieses Ergebnis eindrucksvoll untermauert. Die Anzahl der Tiere mit Durchfall betrug 51 (63,0 %) unter Behandlung mit Placebo und 10 (12,2 %) bei Einsatz von E. coli Stamm Nissle 1917.DieserUnterschied ist statistisch signifikant (p < 0,001). Dauer und Schweregrad der einzelnen Durchfälle wurden über die Kotkonsistenz erfasst. Bei Behandlung mit E. coli Stamm Nissle 1917 war die Anzahl der Tage/Kalb mit normalem Kot erhöht und die Anzahl der Tage/Kalb mit verändertem Kot verringert. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der wichtigsten Nebenziele der beiden Studien: Todesfälle,„Erkrankungen außer Durchfall“ und Begleitmedikation. Während der Studien wurden in beiden Behandlungsgruppen Todesfälle beobachtet: 18 unter Gabe von Placebo und 12 unter Gabe von E. coli Stamm Nissle. Die Verwendung von Begleitmedikation zeigt einen ähnlich positiven Effekt für die E. coli Nissle Gruppe. 121 (71,2 %) der Placebo-Tiere und 95 (57,6 %) der E. coli Tiere erhielten eine Begleitmedikation. Dieses entspricht einer Verringerung von 21,5 % in der E. coli Gruppe. Wie durch die jeweils verantwortlichen Tierärzte vor Ort dokumentiert wurde, zeigten die mit E. coli Stamm Nissle 1917 behandelten Tiere einen generell besseren Gesundheitsstatus. In der Placebogruppe wurde der Gesundheitszustand an 4,0 % aller Beobachtungstage mit schlecht bewertet. In der E. coli Gruppe wurden 1,1 % aller Tage so bewertet.
Tab. 1: Kälber mit Durchfall |
||||
|
Placebo |
E. coli |
||
(n) |
(%) |
(n) |
(%) |
|
Studie I |
58 |
65,2 |
22 |
26,5 |
Studie II |
51 |
63,0 |
10 |
12,2 |
* Ponsocol® |
Tab. 2: Nebenzielkriterien |
||||
|
Placebo |
E. coli |
||
(n) |
(%) |
(n) |
(%) |
|
Todesfälle |
18 |
10,6 |
12 |
7,3 |
Kälber mit „Erkrankungen außer Durchfall“ | ||||
Anzahl der Tiere: |
90 |
52,9 |
68 |
41,2 |
Kälber, die Begleitmedikation erhielten | ||||
Anzahl der Tiere: |
121 |
71,2 |
95 |
57,6 |
* Ponsocol® |
Fazit
In den hier vorgestellten Studien wurde der Effekt probiotischer E. coli Bakterien in der Prophylaxe und Therapie von Durchfällen neugeborener Kälber unter Feldbedingungen untersucht. In beiden Studien wurde ein deutlicher Effekt bezüglich der Rate an Durchfall erkrankter Tiere zugunsten der Behandlung mit E. coli Stamm Nissle 1917 festgestellt. Verglichen mit der Placebo-Gruppe konnte die Durchfallrate in Studie I ummehr als 50 % gesenkt werden. In der Studie II konnten diese guten Ergebnisse sogar übertroffen werden. Die Durchfallrate betrug 63,0 % unter Verwendung von Placebo und 12,2 % unter Verwendung von E. coli Stamm Nissle 1917. Die Gabe lebensfähiger E. coli Zellen des Stammes Nissle 1917 während der ersten Lebenstage scheint die Entwicklung der Darmflora in Richtung eines gesunden Gleichgewichtes zu verschieben. Die hierfür verantwortlichen Mechanismen sind im einzelnen nicht bekannt und noch nicht verstanden. Der bekannte antagonistische und der immunstimulierende Effekt von E. coli Stamm Nissle 1917 werden als Ursachen vermutet. Hierdurch könnte ein Schutz gegenüber der Kolonisation des Verdauungstraktes durch pathogene Erreger und somit die Entstehung von Durchfällen verhindert werden. Für weitere Informationen fragen Sie Ihren Tierarzt.
Dr. Rudolf von Bünau